Urs Marty

In der Liebe, wie in fast allen menschlichen Angelegenheiten, ist das herzliche Einvernehmen das Ergebnis eines Missverständnisses. Dieses Missverständnis ist die Lust.
Charles Baudelaire

Die Annäherung an den Menschen, den Fotografen und sein Werk erweist sich als Exkursion in ein weitgehend ungesichertes Gelände, denn im Grunde wissen wir alles und nichts über Urs Marty.

Die wenigen Ausstellungen, die er zu seinen Lebzeiten erleben durfte, vermochten denn auch kein gültiges Bild seines Schaffens zu geben. Die erste 1986, in der Zürcher Nikon-Foto-Galerie, präsentierte neben Landschaften und anderen Motiven auch jene Reportage aus einem biederen miefigen Puff irgendwo in Basel, die ein Jahr später als Beitrag zum Bildband Liebe zu kaufen: Zehn Fotografen sehen die Prostitution eine grössere Öffentlichkeit finden sollte. Sein Scharfblick war durch und durch emotional angelegt und von Solidarität geprägt, wodurch die fotografische Erforschung der Intimität eine selbstverständliche und faktische Präsenz finden konnte und gleichzeitig auch Abgründe aufzureissen vermochte. Martys explizite Auseinandersetzung mit der erotisch besetzten, sexuell oder wenn man will pornografisch motivierten Parallelwelt entwickelte eine beträchtliche subversive Qualität. Nicht zuletzt auf Grund der kontrollierten Cadrage und der subtilen Komposition und Lichtführung weht aus heutiger Sicht auch eine feine Note der Nostalgie durch diese Aufnahmen, die allerdings nie an irgendeine sentimentale Weinerlichkeit rührt. Das Auge muss in unterkühlter Zärtlichkeit klar bleiben, wenn Marty daran geht, uns die theatralischen Energien aufzuzeigen, die hinter den grundsätzlich ritualisierten Verhaltensweisen um das Mysterium der Lust stecken. Er war mit den Situationen hinter den Kulissen so vertraut wie mit dem Auftritt vor den Kulissen – als Fotograf war er ja auch so etwas wie Dramaturg und Regisseur in einer Person. Die Erinnerung evoziert dazu ein Bild, wie Marty im Stadttheater Luzern aus der Höhe des Schnürbodens die laufende Aufführung auf der Bühne betrachtet – aus einer Perspektive, die alle involvierten Wahrnehmungsebenen des Spektakels in sich vereinigt: das Publikum, die Rollenträger und ebendiese Akteure im faszinierenden Wechselbad zwischen Figur und Person – im Off und doch mitten drin. Er liebte das Phänomen und die immense metaphorische Qualität des Theaters.

Nicht dass wir die Milieu-Bilder missen möchten, auf die man sein Schaffen gerne immer wieder reduzieren wollte, aber Martys Werk hatte schon immer eine grössere Spannweite. Da sind einmal die Portraits, die von Leuten wie Bocuse oder Fellini über befreundete Frauen bis zu den Luzerner Figuren reicht, welche er in der Manier von Irving Penn in die Ecke stellte. Dazu kommt die ganze Palette der disparat und weitgefächert sich darstellenden Reise-Impressionen: die frühen reportageartigen Portfolios aus den Vereinigten Staaten, aus New York, aus London oder aus dem belgischen Charleroi. Er besuchte diese einst wichtige Industriestadt mehrmals, nicht zuletzt vielleicht aus einer sentimentalen Bindung, denn während seiner Schulzeit war er für einen längeren Abschnitt in ein dortiges katholisches Internat verbannt worden. Wenn er Charleroi in der Phase des Niedergangs darstellt, in der wie in anderen Bergwerksregionen eine Kohlegruben um die andere geschlossen wurde, so haftet der Tristesse der Situation möglicherweise auch eine persönliche Note an. Eigentlich zieht sich dieser Hang zur Tristesse zusammen mit einem Hauch von Sehnsucht und einer herben Wehmut durch das ganze Œuvre. Man könnte von einer neorealistischen Ästhetik sprechen, die ganz wesentlich durch den brillanten Einsatz der Grauwerte evoziert wird, durch die Delikatesse der aus Schwarz und Weis sich entwickelnden Valeurs. Diese Bilder sind die Früchte von Martys hingebungsvoller Arbeit in jenem anderen Rotlichtbezirk der Dunkelkammer, denn das Entwickeln war ihm ebenso wichtig wie das Erfassen des Bildes. Die Fotografie als ein auf allen Ebenen wirksames Spannungsfeld zwischen Licht und Dunkelheit. Bei allem gebotenen Respekt lässt Martys Ansatz unwillkürlich an das wunderbare Diktum von Robert Frank denken, der einmal meinte: »Schwarz und Weiss ist die Vision von Hoffnung und Verzweiflung …«
Auszüge aus dem Textbeitrag von Max Wechsler, 2009 (Urs Marty – edition stephan witschi / Steidl Verlag) 

Urs Marty
*1942 in Altdorf geboren
†2003 in Altdorf

Ausbildung
Grundkurs der damaligen Kunstgewerbeschule Luzern
Ausbildung zum Fachfotografen
intensiven Zeit der Auftragsarbeiten für Werbung und Industrie
1968 erster Dozent für Fotografie an der Luzerner Schule für Gestaltung

Einzelausstellungen (Auswahl)
2010 Konrschütte, Luzern
2009 Galerie Stephan Witschi, Zürich
2003 Erfrischungsraum, Galerie der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Luzern
2002 Galerie Maurer, Zürich
Atelier Steinemann, Neuenkirch
1998 Galerie Maurer, Zürich

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2013 Heim und Leben (aus dem Fotoarchiv einer illustrieten Publikumszeitschrft), Museum im Bellpark, Kriens
2011 Inszenierungen und andere Spiele, Haus für Kunst Uri, Altdorf
1997 Fa freddo nel mediterraneo (zusammen mit Stefania Beretta, Gianni Hoffmann und Gianfranco Lepori), Antico monastero delle Agostiniane, Montecarasso
1986 Nikon Foto-Galerie, Zürich

www.foto-ch.ch
www.stephanwitschi.ch/stephan-witschi/kuenstler/urs-marty.html
www.hausfuerkunsturi.ch/allgemeines/inszenierungen-und-andere-spiele/