Willy Spiller

«Mondlicht»

Sein Einfluss auf uns Menschen ist rätselhaft: Der Mond zieht uns an, magnetisch – weg von der Einkaufsstrasse und hin vor die Fotografien des Willy Spiller. Hier sollen wir Zugvögel landen, den Hof des Mondes betreten, in seinem «Mondlicht» stehen – eine Atempause. Nüchtern werden kann man hier, klar, still und demütig.
Seit 15 Jahren reist Spiller dem vollen Mond entgegen und wartet – oft vergeblich –, wenn er aufgeht über Eiger, Mönch und Jungfrau, wenn er erscheint über den Churfirsten, dem Mythen, Pilatus, Säntis oder dem Wetterhorn. Den Vollmond fotografieren heisst, seine Pläne dem Wetter unterordnen, heisst warten lernen (oder, im Bild des Fotografen, einen Treffer im Lotto haben). Und dieses Warten hat Geschichte: Mondlicht im Gebirge ist ein Topos der Fotografiegeschichte seit ihren Anfängen, seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts; ob die Künstler einst Albert Steiner hiessen oder später Dölf Reist. Doch keiner hat, wie Spiller, sich auf den Vollmond kapriziert – zu viele Unwägbarkeiten erwarten den Fotografen in den Bergen, zu wetterwendisch ist die menschliche Lage.
Das alles hat Spiller auf seinen Expeditionen wenig gekümmert. Auch die Hypothek, die der Bergfotografie als Genre anhängt, hat ihn nicht von seinem Vorhaben abgehalten.
Doch Spillers Bilder scheuen keine Anachronismen, nicht die Romantik und noch weniger das Pathos; sie sind das Dokument einer Faszination und der Naturschönheiten schlechthin. Oder doch vielmehr die Belege unsrer Sehnsucht? Denn was wir auf den Fotos sehen, ist eine Chimäre und pure Täuschung: Silberglanz über Berghängen des majestätischen Chaiserstocks; bleicher Mond überm nachtschwarzem Fels des Klein Windgällen; das Schattenbild des Mondes auf der Nebelwand; der Mond, betrunken, hinter schnell ziehenden Wolken – so mag es uns vielleicht vorkommen. Doch die Wissenschaft weiss es besser: Die Oberfläche des Mondes ist in Tat und Wahrheit nahezu vollständig von einer aschgrauen Staubschicht bedeckt; das Gestirn ist ein trockener Körper. Wie können uns Spillers Bilder dennoch derart verführen? Wäre es wahr, und der Mann im Mond ist ein Hochstapler, tatsächlich?
Daniele Muscionico
(Textauszug)

Willy Spillers Neugier gilt der Veränderung, seien es gesellschaftliche Umbrüche oder solche der Ästhetik und er wagt es immer wieder auszubrechen aus der fotografischen Norm. Mit seiner Suche nach einer subjektiven Wahrheit – oft geht es dabei um Macht und Ohnmacht – verhilft Spiller der Dokumentarfotografie zu einem eigenen Stellenwert im aktuellen Kunstdiskurs.

»… Spiller hat die Stadt seines Arbeitens und Wohnens für seine Generation fotografiert. Für eine Generation, die sich nichts vormachen lässt, und die es anderseits so gut versteht, sich selber etwas vorzuspielen. Eine Generation, zu welcher der Plausch gehört, welche gegen die Kommoditäten rebellierte und von der Resignation noch so etwas wie Bequemlichkeit erwartet. Ein Aufbegehren und Betroffensein, wo Sentimentalität und lässiges Darüberhinweggehen sich nicht ohne weiteres trennen lassen.
… Spiller arbeitete nicht nur mit einer Kamera, die von vorneherein auf Kritik aus ist, sondern mit einer, die festhalten will. Und wenn es doch zur Entlarvung kommt, dann deswegen, weil seine Kamera den Moment benutzt, in dem sich die Gesellschaft der Entlarvung preisgibt.
Zürich, der Anlass für diese Bilder ist, tritt damit als Anlass in den Hintergrund. Plötzlich wird es unwichtig, ob diese Aufnahme in diesem Quartier gemacht wurde und jene in jenem, und auch die Frage wird ohne Belang, was von Zürich festgehalten wurde und was nicht in die Auswahl kam. Zürich wird zu einer möglichen Bühne menschlicher Auftritte.«
Hugo Loetscher in Die Stadt, Bilder eines Lokalreporters, 1977

»Selten habe ich Spiller ohne seine Kamera gesehen. Sie war eigentlich seine technische Extremität. Er setzte sie so flink, schnell und unauffällig ein, dass die Leute, die er auf den Film bannte, oft nicht wussten, wie ihnen geschieht. Gab es Schwierigkeiten, wurde aus dem Fotografen ein Regisseur. Spiller versteht es mit viel Raffinement, die Leute zu motivieren. Er gibt ihnen für Momente das Gefühl, sehr wichtig und sehr bedeutend zu sein. Es ist dann wie bei Drehaufnahmen: Spiller führt Regie (›– ja, das ist gut so, sehr gut, oh wunderbar, wenn Sie sich jetzt noch den Hahn auf die Schulter setzen‹) – und die Leute agieren und posieren, und manchmal dachte ich, dass ein wenig mehr Theater den Menschen sehr gut tun würde.

Die Stadt Zürich war während Jahren Willy Spillers fotografisches Thema. Ich glaube zu wissen, dass Spiller diese Stadt liebt. Diese Liebe aber ist gebrochen durch die Tatsache, dass die Welt rund ist und gross und Spiller immer wieder von fremden Erdteilen träumt.«
Stephan Bosch in Die Stadt, Bilder eines Lokalreporters, 1977

»Er pflegte, lange vor Helmut Kohl, die Kunst der Gelassenheit und kam trotzdem immer auf den richtigen Platz. Er konnte sich bis zur Unsichtbarkeit unauffällig machen. Das Genie-Gehabe des aufstrebenden Fotokünstlers liess er absolut vermissen. … Beim ›Züri-Leu‹ hatte ich das Vergnügen, Willy Spillers Chef zu sein – und das ging so, dass er mir sagte, was ich ihm zu befehlen hatte. Er war damals über die Strassenumfrage und den Pflichteinsatz bei Pressekonferenzen längst hinaus. Er war eigentlich kein fotografischer Mitarbeiter, sondern ein eigenes Ressort. Er ging redaktionsunabhängig auf Exploration. Er durchforstete die Stadt Zürich, bis er alle Fassaden und Hinterhöfe, alle Quartiere und in der Stadt vorhandenen Menschenschläge im Kasten hatte. In drei Jahren schuf er im ›Züri-Leu‹ mit der Kamera ein vollständiges Bild von Zürich in mindestens hundertfünfzig Reportagen. Dann kündigte er.
Er kündigte, weil er, wie er sagte, ›Zürich jetzt gesehen hatte‹. Und dann ging er nach Amerika.«
Jürg Ramspeck in Subway, New York; Edition Stemmle, 1986

Willy Spiller
*1947 in Zürich
lebt in Zürich

Ausbildung
1962–1966 Fachklasse für Fotografie an der Kunstgewerbeschule Zürich
1966–1968 Aufenthalte in Mailand
1969–1977 Fotoreporter für Züri-Leu, Neue Zürcher Zeitung, Tages-Anzeiger-Magazin, Stern, etc. Reportagereisen nach Südamerika, Asien, Afrika
1977–1984 New York-Aufenthalt
1984–1989 Fotoreporter Schweizer Illustrierte
seither freischaffend
Reportagen mit den Schriftstellern Hugo Loetscher, Paul Nizon, Gerold Späth
Mitglied der Bildagentur Getty Images New York

Einzelausstellungen (Auswahl)
2007 Mondlicht, Art Barn Gallery, Verbier
2006 Auf dem Weg nach Mandalay, Panasia Galerie, Davos
2006 Mondlicht, Haus zum Bracken, Zürich
2005 Auf dem Weg nach Mandalay, Leica Galerie, Biel
2004 Abschied von Europa, Panasia Galerie, Zürich
2002 Zusammenspiel, Hochschule für Musik, Zürich
1990 Brasilien, SCALO, Zürich
1986 Centre Culturel Suisse, Paris
1982 Subway New York, Swiss Center, New York

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2003 Il lungo addio / Der lange Abschied, Wanderausstellung, Istituto Svizzero, Rom
2001 Durchs Bild zur Welt gekommen. Hugo Loetscher und die Fotografie, Pressehaus, Zürich
1991 l primi 10 anni, Galleria Gottardo, Lugano
1990 Gottfried Keller, Pressehaus, Zürich
1980 Jeune photographie zurichoise, Musée des Arts Décoratifs, Lausanne
1974 Photographie in der Schweiz von 1840 bis heute, Wanderausstellung, Schweizerische Stiftung für die Photographie, Zürich

Auszeichnungen
1977 Kodak-Buchpreis
1973 und 1975 Eidgenössisches Stipendium
1970 Leistungspreis der Stadt Zürich

Bücher
1990 Sterben in Canindé, Portfolio; Der Alltag, Zürich
1986 Subway New York; Stemmle, Schaffhausen
1977 Die Stadt. Bilder eines Lokalreporters; Kossodo, Genf
1975 Musikinstrumente und wie man sie spielt; Atlantis, Zürich
1970 Sketches, mit Urs Lüthi und David Weiss; Gerber, Bern

Sammelbände
2009 Alex Sadkowsky. Bio-Foto-Kultografie, Roy Oppenheim (Hg.); Scheidegger & Spiess, Zürich
2003 Il lungo addio – Der lange Abschied. 138 Fotografien zur italienischen Emigration in die Schweiz nach 1945, Text D. Bachmann; Limmat, Zürich
2001 Durchs Bild zur Welt gekommen. Hugo Loetscher und die Photographie; Scheidegger & Spiess, Zürich
1991 I primi 10 anni, Katalog; Galleria Gottardo
1974 Photographie in der Schweiz von 1840 bis heute; Niggli, Teufen

Willy Spiller, «Remake Huckepack», David Weiss und Urs Lüthi, 2002, Fotografie, 27.4 x 39.6 cm